FAUST by Frank Castorf

Das Männliche ist das Vergängliche

„Der Kolonisierte heilt sich von der kolonialen Neurose, indem er den Kolonialherren mit Waffengewalt davonjagt.“ So kommentierte Jean-Paul Sartre Anfang der 60er Jahre den Befreiungskampf der französischen Kolonien  in Nord-Afrika, vor allem Algeriens. Schlüsselmomente dieses Wechselspiels von Auflehnung und blutiger Niederschlagung waren 1945 der Aufstand von Sétif und nach Jahren des Krieges das Paris-Massaker 1961; fast 300 Tote im Herzen der 5. Republik. In dem anti-kolonialen Projekt, dessen Träger in Algerien damals die FLN war, sah der Philosoph das Modell eines emanzipativen, solidarischen Sozialismus, der in dem blockfreien Viereck zwischen Belgrad, Kairo, Accra und Jakarta damals greifbar nahe zu sein schien. Der Philosoph  setzte sich für den gewaltsamen Umsturz ein und scheute sich nicht vor einem Plädoyer für einen Jakobinismus des 20. Jahrhunderts. In seinem berühmten Vorwort zu Frantz Fanon´s „Die Verdammten dieser Erde“ heißt es: „In der ersten Zeit des Aufstandes muss getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt, zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“

Goethes Faust-Figur entwickelt sich unter dem Einfluss Mephistos vom zweifelnden und verzweifelten Intellektuellen  zu einem globalen Unternehmer. Er wird zum Prototyp eines totalen ökonomischen Weltherrschers und den Planeten umspannenden Kolonisten, der freilich ebenso scheitert wie der frustrierte Gelehrte, der seiner perspektivlosen Studien so überdrüssig ist, dass er sterben will. Sein Pakt mit dem Teufel bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Entscheidung für den Individualegoismus und die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Rest der Welt. Das ist für Faust eine Alternative zum Selbstmord und gleichzeitig der Einstieg in die moderne Marktwirtschaft, die das private Eigeninteresse zum Movens der gesellschaftlichen Entwicklung erklärt. Das quasi scientologische Ich-Zuerst und Ich-Vor-Allen-Anderen wird zu seinem Credo. Faust nutzt das Teufelswerk Mephistos für eine Verjüngungskur und startet hedonistisch. Zunächst verführt und verlässt er das unschuldige Gretchen aus der Nachbarschaft; später lässt er sich vom Teufel in die Zeit des Trojanischen Kriegs beamen, weil er es auf Helena abgesehen hat, die schönste Frau der Welt, die er erpresst und heiratet. Das Glück scheint sich zu erfüllen, doch ihr Sohn Euphorion, der grenzenlos Glückliche, stirbt bei einem Unfall. Danach wird Faust erst richtig zum „Faustischen Menschen“. Arbeit ist jetzt das einzige. Er stürzt sich förmlich in sie hinein, gewinnt Macht und verhundertfacht den Effekt, indem er andere für sich nach seinen Plänen arbeiten lässt. Er wird zum Unternehmer, ein besessener Workaholic, der das „Faulbett“ verachtet. Er legt – in der Urlogik der Wertschöpfung: „Bezahle, locke, presse bei!“ – das Meer trocken, um Land zu gewinnen, auf dem irgendwann in der Zukunft freie Menschen glücklich und fleißig leben sollen. Das könnte die Utopie eines gleichsam kommunistischen Reiches sein, wie man früher in der DDR gerne vermutete, oder auch der neoliberale Kapitalismus selbst, der uns nicht nur in die Erschöpfung treibt, sondern der die mephistophelische Frage – Wozu all die Rackerei? – systematisch verdrängt.
Goethe rahmt dieses ganze Programm am Ende als Illusion: die den Deich und die Zukunft bauenden Arbeiter, die für den blinden alten Faust kurz vor seinem Ende zu einem hoffnungsvollen Vorgefühl  des „schönen Augenblicks“  werden, sind in Wirklichkeit Lemuren, die sein Grab schaufeln…

Das „männliche“ Prinzip des aktiven Lebens, das Effizienzdenken schien in den Anfängen des Kapitalismus extrem erfolgversprechend zu sein. Es legitimierte sich von selbst. Aber es hatte von Anfang an einen Pferdefuß, es war illusionär und blind und scheiterte notwendig. Die Betriebslogik des Neoliberalismus hat immer noch den gleichen Pferdefuß. Sie ist gefräßig und expansiv, auf der Suche nach Leistungssteigerung und neuen Absatzmärkten breitet sie sich über den gesamten Planeten aus. Von einem solidarischen Gegenprojekt ist heute nicht mehr viel zu sehen. Die Instrumente der Gewalt und des Terrors – in die Sartre noch seine Befreiungshoffnung setzen konnte – haben sich Fundamentalisten und Narzissten angeeignet, die aus der Anonymität und Zufälligkeit ihrer Existenz heraustreten wollen. Sie sind lediglich die Kehrseite der Medaille. Sie agieren nun auch in den Metropolen, von denen einst die faustische Beherrschung von Mensch und Raum ausging. Mit dem Erstarken rechter, nationalistischer Bewegungen und dem Schwinden der einst vielgerühmten Selbstregulierungskräfte der „unsichtbaren Hand“ des Marktes tritt der Kapitalismus in seine von Rosa Luxemburg prophezeite Phase der Barbarei ein. Die außerökonomische Zwangsgewalt verwandelt Märkte in Gewaltmärkte. Nicht mehr das freie Spiel der Kräfte und die reinigende Wirkung eines für alle offenen Marktes ermöglichen das Funktionieren der Gesellschaften, sondern das Recht des Stärkeren tritt an ihre Stelle. Das mephistophelische Prinzip der Negation, dem Faust als moderner Unternehmer sich verschreibt, ist das Prinzip der politischen Ökonomie. Der „Geist, der stets verneint und deshalb ein Teil ist von „jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, hat den Wirtschaftsexperten Goethe fasziniert. Er stand ihm ambivalent gegenüber. Eine Alternative sah er nicht. Deshalb nennt er seine Dichtung eine Tragödie. Die Allianz mit Mephisto, dem zynischen Erfolgsdenker, der es sich leisten kann, die Wahrheit zu sagen, hat zu einer ausweglosen Lage geführt; Kolonisierung und Selbstkolonisierung, Wachstumszwang und territoriale Expansion.

Frank Castorf versucht einen differenzierten interpretativen Befreiungsschlag. Er übermalt Goethes radikales Form-Experiment Faust II mit den Mitteln des Theaters. Und sucht ästhetische Auswege aus der verhängnisvollen Konstruktion der Tragödie. Er findet im Text angelegte Motive der Sehnsucht nach absoluter Liebe und Schönheit –  Antipoden kapitalistischen Effizienzstrebens –  und verbindet Dichtung, Geschichte und Transzendenz auf komplexe Weise mit der Realität der Bühne. Das bringt ihn nach Paris, der Stadt der Sehnsucht und des Ewigweiblichen bis zur Metro-Station Rue Stalingrad. Aus dem in der Vergangenheit angehäuften und  gesammelten Theaterwissen entsteht so etwas wie ein Volksbühnenfaust am Rosa-Luxemburg-Platz. Ein Mammutprojekt, das nur möglich ist durch seine Spieler und Künstler, von denen viele bis zu 25 Jahre dafür trainiert haben. Ein letztes Mal (?) kommen sie zusammen und ersteigen gemeinsam den Mount Faust. Das Männliche ist das Vergängliche, das ewig Weibliche aber zieht uns hinan.

Sebastian Kaiser / Carl Hegemann

Spieldauer: 6 Stunden 50 Minuten, eine Pause

 

Mit: Martin Wuttke (Faust), Marc Hosemann (Mephistopheles), Valery Tscheplanowa (Margarete und Helena), Alexander Scheer (Lord Byron und Anaxagoras), Sophie Rois (Die Hexe), Lars Rudolph (Doktor Wagner), Lilith Stangenberg(Meerkatze Satin), Hanna Hilsdorf (Homunculus), Daniel Zillmann (Monsieur Bordenave, directeur du Théâtre des Variétés), Thelma Buabeng (Phorkyade), Frank Büttner (Valentin), Angela Guerreiro (Papa Legba und Baucis), Abdoul Kader Traoré (Baron Samedi & Monsieur Rap rencontrent Aimé Césaire) und Sir Henry (Der Leiermann)

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz
Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer
Musik/Ton: Tobias Gringel, Christopher von Nathusius
Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, William Minke, Cemile Sahin
Dramaturgie: Sebastian Kaiser

http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/faust/

Fotos © Thomas Aurin